Wiebke Johannsen |

Die historische Wanderpredigerin vor dem Gesetz

Taxonomien der Vermittlung, II. Teil

Ich lerne praktisch überall, manche nennen es Bildung. Zu meinem Kummer verdünnt die Pandämie die allgemeinen Gelegenheiten und bietet verstärkt individuelle Persönlichkeitsbildung wie Selbstreflexion und Erkenntnisse die Dispositive der Macht betreffend. 

Scheinbar schlieszt sich ein Kreis: zu Beginn meiner Selbständigkeit als Historikerin und Museumspädagogin konnte ich beim Amt, das sich "Agentur für Arbeit" nennt und in mir immer die Assoziation von Armut, Almosen und Abenteuer auslöst, einen sog. Existenzgründungszuschusz beantragen und auch erhalten. 

Es war die Zeit der gepriesenen „Ich AGs“, vor der zweiten rot-grünen Regierung unter Kanzler Schröder. Also vor der Einführung von ALG II, im Volksmund "Hartz4", im Jahr 2005 und der Öffnung einer groszen Schleuse.

So stelle ich mir das vor

Frei heraus strömt die Angst vor Armut, Abstieg und Prekarisierung, führt mit sich die völlige Aufhebung von Berufs- und Qualifikationsschutz nebst Sanktionsdrohung bei kleinsten Vergehen. Alles ist zumutbar.

Doch ich greife vor. Aus der Zeit vor dieser „Reform“ stammen meine letzten Erlebnisse mit dem Arbeitsamt und es folgt nun eine Anekdote:

Während des Beratungssgesprächs nannte die Mitarbeiterin mich hartnäckig Kunsthistorikerin und erwähnte Kirchen-Führungen, die ich machen solle. Nach dem dritten Mal korrigierte ich sie, ich sei Historikerin!

Sie hielt kurz inne. Achso, nur Historikerin… . Kleine Pause. Es bzw. sie degradierte mich: Keine Kunst. Mag sein, dasz ich seither Phantomschmerzen empfinde, es fehlt dies Unding, dies Unfertige und Unverfügbare.

Zwischen Guide und Gaukler

Sicher ist, dasz ich um Begriffe ringe, diese praktischen Henkel, die an Dinge angebracht werden, um sie handhabbarer zu machen. 

Etwas zwischen Guide und Gaukler, zwischen Wanderpredigerin und Vermittlerin, akademisch gebildet und in karstiger Randlage der Wissenschaftslandschaft - das ist die Museums-Pädagogin. Zu diesem in between gesellt sich für mich nun ein neuer Begriff, der mir vom Jobcenter verliehen wurde.

Ja, dieser zweite Stillstand trieb mich zum nunmehr ortlosen Amt für Arbeitslosigkeit, Abteilung Jobcenter, um Hilfe zum Lebensunterhalt zu beantragen. Digital, daher ortlos und unpersönlich, was die Einsparung von persönlichen Demütigungen nahelegte. Das Amt versprach vereinfachte Antragstellung von ALG II (I existiert übrigens nicht); ich bleibe beim gut eingeführten Begriff der Stütze und vielleicht mag ich es in ein paar Wochen ja Wohlfahrt nennen. 

Im Telefon-Interview wurde mir der befremdende Begriff der Fremdenführerin verliehen. Hier hilft kein Widerspruch, da es sich um eine amtliche Berufsbezeichnung handelt.

Fremdenführerin…?


"Sag mal, Hannelore, hast Du im Fremdenverkehrsamt gefragt, ob hier Fremdenführungen angeboten werden?"

Zum ersten Mal hatte die Familie Krüger eine Ferienreise unternommen. Es ging mit dem Autobus ins Weserbergland und die modern eingerichteten Fremdenzimmer verfügten über flieszend warm und kalt Wasser. Die Fremdenführerin trug ein gestreiftes Kleid, eine schmale Taille und einen spitzen Busen. Der Kollege mit seiner Brisk-Frisur sah aus wie ein Handelsvertreter. 


Doch zurück zu den amtlichen Abenteuern, den viel zu wenig geschätzten. Die Fremdenführerin (also ich), die sich doch als Person immer fremd fühlte in vertrauter Umgebung, wog das Wort, das zwischen Bergführerin und Wortführerin wohnte.

Der Berg indes widersetzt sich dem Geführt-Werden, das Wort weniger. Dies liesz der Vermutung Raum, dasz das Fremde-Führen sich nicht auf die zu Führenden, sondern den Ort/ das Ziel bezieht. 

Ich, Du, Sie führen ins Fremde. Wer assoziiert da nicht Hölderlins Aufforderung, ins Offene, Freund?

„Komm! ins Offene, Freund! Zwar glänzt ein Weniges heute/ Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.“

(Elegie an Landauer, 1801)

Komm ins Fremde, Freund!

Und zur Fremdheit gesellt sich die Freiheit. Zur Freiheit der Fremdenführerin gehört das Fremd-Stellen, was bedeutet, ein Wort, ein Objekt solange ansehen, bis es fremd zurückblickt.

Das Amt verfügt über seine eigenen Vertrautheiten. Offenbar war mein Existenzgründungszuschusz aus prä-Hartz-Zeiten verjährt, denn die Telefonstimme konstatierte, dasz ich „nicht im System“ sei. Ich war es nicht.

Die Amtsperson vor dem Amts-Computer ist die unterste Türhüterin. Was die wartende Fremdenführerin von hier aus nicht sehen kann, sind die Türen mit den Aufschriften: Regelbedarf, Bedarfsgemeinschaft, Mitwirkungspflichten, Eingliederungsvereinbarung und Meldepflicht. 

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Kommentare

  • Anonym

    27.11.2020 17:28 Uhr

    Dat hoochdüütsche Woort "Fremdenführerin" hett mi dinken hulpen an Fossilien, wiet ünner den Grund to liggen. Oma weer to Kur in de Lümborger Heid. De Öllern op en Reis na Österreich. För Vader de eerste Tour in't Butenland sietdat Österriek twüschrntiets keen Butenland mehr weer. Wenn een mal de Törns to'n Tanken na Däänmark weglaten deit. Un dor harrn se keen Frömdenföhrersch to Hölp. Sodennig harr dat Woort Fremdenführerin en exootschen, meist en töverhaftigen Klang. De keem ut en anner Welt, ut de grote wiede nämlich. Vun dor is jo noch nüms wedder trüüchkamen. Vun uns tominnst. Allerdings ok keen utrucken.
    Sodnnig is de Fremdenführerin vundaag en wunnerlich, man in de eerste Spraakschicht en wunnerhaftig Woort.

  • Ruth-Esther Geiger

    05.01.2021 21:39 Uhr

    Wunderbar, Wiebke, so wunderbar betrachtet und betextet aus lichten Höhen der Unberührbarkeit durch Hartzbelegte Hirne. Wenn es nicht alles so bedrückend wäre, existentiell bedrückend für alle 'Soloselbständigen'.
    Ich hoffe sehr, Du kannst Deine wichtige Arbeit retten für einen neuen Einstieg, wenn das ganze Puzzle neu gemixt ist, in dem wir leben. Dein Talent bleibt sowieso wirksam, wie man liest. Immer als Textgueriellera unterwegs.05.01.2021

  • Ruth-Esther Geiger

    05.01.2021 21:41 Uhr

    Wunderbar, Wiebke, so wunderbar betrachtet und betextet aus lichten Höhen der Unberührbarkeit durch Hartzbelegte Hirne. Wenn es nicht alles so bedrückend wäre, existentiell bedrückend für alle 'Soloselbständigen'.
    Ich hoffe sehr, Du kannst Deine wichtige Arbeit retten für einen neuen Einstieg, wenn das ganze Puzzle neu gemixt ist, in dem wir leben. Dein Talent bleibt sowieso wirksam, wie man liest. Immer als Textgueriellera unterwegs.05.01.2021